Titelfoto: Caspar Sasse (Tadzio), Edvin Revazov (v.Aschenbach)
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Die Wiederaufnahme von John Neumeiers Ballett Tod in Venedig, seine Adaption/Interpretation von Thomas Manns Novelle an der Staatsoper Hamburg, endete mit sekundenlanger Stille. Der tosende Applaus begann nicht schon nachdem der letzte Ton verklungen war, sondern erst nachdem Edvin Revazov (v.Aschenbach) und Caspar Sasse (Tadzio) im Dunkel des erloschenen Bühnenlichts verschwanden. Diese, wenige Wimpernschläge dauernde, Verzögerung der Begeisterung hielt bei mir noch etwas länger an. Es dauerte bis auch ich in den Jubel für Stück, Musik, getanzte Bilder und vor allem die wunderbaren Leistungen von Revazov, Sasse und Co, einstimmen konnte. Wie jene Computer gesteuerten Spritzen traf dieser Abend in seiner Gesamtheit genau den Nerv, der getroffen werden musste und wollte. Kurz: Wow!

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Tragödie einer Erniedrigung/Totentanz
So nannte Thomas Mann selbst seine Novelle um den alternden Schriftsteller Gustav Aschenbach, der als offizielle Würdigung seines Schaffens sein „von“ vor dem Namen tragen darf, und um Ruhe und neue Kraft zu sammeln, nach Venedig fährt. Statt neuer Energie findet er dort eine Liebe in dem Jüngling Tadzio, dem er nie zu nahe tritt, ist er doch für ihn eher Ideal, statt für reales Objekt der Begierde. Doch die Begegnungen der beiden bewirken eine tiefe emotionale Veränderung in dem einst so kontrollierten und selbstbeherrschten Mann. Am Ende stirbt von Aschenbach an der Cholera,, der in seiner (Selbst)Erniedrigung unter anderem so weit ging, einen grell und vermeidlich jugendlich geschminkten Gecken aus sich machen zu lassen und sich ekstatischen, dionysischen Träumen hinzugeben. Noch im Sterben erscheint der Junge von Aschenbach, scheint ihm am Meer stehend. Thomas Mann benutzt in der Beschreibung der Todesszene, den unter die Haut gehenden Satz: „Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.“.

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Bei John Neumeier ist der ältere Protagonist Choreograf und der (fast) finale Satz ein einfühlsam-bewegendes Pas de deux, das den Schlusspunkt des Totentanzes bildet als den Neumeier sein Ballett bezeichnet. Auch heißt es „frei nach der Novelle von Thomas Mann“ und wie alle seine Ballette nach literarischen Vorlagen betont Neumeier das Menschliche, macht aus fiktiven Figuren Personen, die uns an jemanden aus unserem Leben erinnern könnten, mit ‚alltäglichen‘ Gefühlen, Sehnsüchten und auch Schwächen. Die Art, wie Aschenbach sich platonisch ganz und gar seiner Faszination für Tadzio hingibt, bedingungslos und unwiderruflich, hat Trigger-Potential. Man erinnert sich an Personen, vielleicht eine unerfüllte Liebe, denen es ohne allzu großes Zutun gelang, uns bis in die Grundfesten unserer Überzeugungen zu erschüttern, uns verändern. Wie leicht kann da aus, noch dazu vom anderen nicht bemerkter oder unerwünschter Hingabe, Selbstaufgabe werden, gerne gewährt, doch meist nicht so endgültig und selbstzerstörerisch wie Aschenbachs Liebe zu Tadzio. Der ist bei Neumeier, ähnlich wie auch schon in Luchino Viscontis Kultfilm von 1970 mit Dirk Bogarde (Aschenbach) und Björn Andresen (Tadzio), ein sensibler, aber manchmal herumtollender und raufender Junge und weniger ein reines Ideal.

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„…. hinterlassen Spuren, die nie ganz verblassen.“
Diesen Halbsatz entlehne ich einer dieser in Print und digital beliebten Sprüchekarten. Am Anfang dieses Zitats steht „Begegnungen, die die Seele berühren…“. Das gilt auch ab und an für Aufführungen wie die hier besprochene. Ich lasse mich ja gerne immer wieder darüber aus, wie sehr die Beurteilung fremder Leistungen auch von der eigenen Tagesform abhängt, doch bin ich überzeugt, dass auch so objektiv wie möglich gesehen, dieser Abend nicht besser, intensiver hätte sein können. Ja, die Bühnenbilder von Peter Schmidt, die Kostüme, für die er und John Neumeier verantwortlich zeichnen, die so passend gewählten Musiken von Johann Sebastian Bach und Richard Wagner verdienen eine ausführliche Erwähnung und Besprechung. Doch das möchte ich mir für meinen nächsten Bericht aufheben.
Denn die, die für die berühmten „nie verwehenden Spuren“ Verantwortlichen, waren all jene, die auf der Bühne agierten oder, wie im Falle von Pianist David Fray, die Tänzer*innen einfühlsam begleiteten. Auch dem Corps de Ballet gab Neumeier wie stets, wenn auch nur kurz auftauchende, Persönlichkeiten, die mit viel Engagement ausgeführt wurden und so die Leistungen der anderen erst komplettierten.

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Die aus Bejing stammende Erste Solistin Xue Lin, die als La Barbarina, der Hofballerina Friedrich des Großen, über den von Aschenbach zu Beginn des Stückes ein Ballett kreieren will, zeigt in mehreren kleinen Soli ihre sehr sichere Technik und leicht ätherischen Ausdruck. Jacopo Bellussi beweist als Friedrich der Große einmal mehr, dass er auch in kurzen, aber doch bedeutungsvollen Partien tänzerisch wie darstellerisch zu überzeugen weiß. Beeindruckend die Szenen zusammen mit Edvin Revazov fast am Ende des Balletts, wenn Friedrich Aufmerksamkeit fordernd, aber auch tröstend in Von Aschenbachs Gedankenwelt auftaucht.
Dass Silvia Azzoni und Alexandre Riabko seit Beginn dieser Spielzeit wieder öfter auf der Bühne zu sehen sind, ist ein absoluter Gewinn. Als Aschenbachs Konzepte waren beide bereits in der Balletturaufführung 2003 in diesen Rollen besetzt, so zieht die Harmonie zwischen ihnen, ihre Leichtigkeit und seine Eleganz auch heute noch in den Bann.

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Anna Laudere zeigt in diesem Ballett in drei Rollen ihre Vielseitigkeit und wunderbare Bühnenpräsenz. So ist sie Aschenbachs aufmerksame, stets korrekte Assistentin. Aber sie stellt auch seine Mutter dar, spielt in Aschenbachs Erinnerungen unbeschwert mit seinem jüngeren ich (Jakub Zouplna, Aspirant für die Aufnahme ins Ensemble) und wischt ihm in einem Traum unendlich zärtlich die furchtbare Schminke vom Gesicht. Dann sehen wir sie auch als die Mutter von Tadzio und seinen drei quirligen Schwestern (Eleanor Broughton, Hermine Sutra Fourcade und Ana Torrequebrada), die Aschenbachs Aufmerksamkeit gerne auf sich ziehen würde. Als Assistentin strahlt sie Distanz und Strenge aus, doch in den anderen beiden Partien begeistert sie durch ihre fast mädchenhafte Anmut und ihre mich immer wieder faszinierenden Armbewegungen und Handhaltungen.

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Louis Musin und Artem Prokopchuk bekleiden ebenfalls mehrere Rollen und glänzen durch Wandlungsfähikeit, Spielfreude und Sprungkraft. Ihre Partien, Wanderer, Gondoliere, Tanzpaar, Dyonisus, Friseur und Gitarrist sind von jeher Figuren, die ich neben den beiden Protagonisten für die bedeutungsvollsten und die beeindruckendsten halte. Sie begleiten Aschenbach (Wanderer, Gondoliere), sind wie ein Blick in seine Zukunft (überschminktes Tanzpaar), erscheinen ihm in sinnlich ekstatischen Träumen (Dyonisus), sorgen für seine vermeidliche, eher das Gegenteil erreichende „Verjüngung“ und erscheinen auch als Gitarristen, die eher an Mitglieder der Gruppe Kiss erinnern als an Musiker aus Aschenbachs Zeit, was von einer rockigen Version von Bachmelodien noch verstärkt wird. Beide jungen Tänzer leisten viel und Großartiges. Besonders als Dyonisus bieten sie zusammen mit Edvin Revazov äußerst sinnlich aufregende Momente, als Friseure dann haben sie etwas sehr verschlagenes an sich. Tänzerisch zeigt Musin ja schon lange, dass der Titel Solist (seit 23/24) wohl verdient ist und auch Prokopchuk, der erst vor kurzem als Rochester (Jane Eyre) überzeugte, wird wohl nicht mehr allzu lange auf eine Beförderung warten müssen.

Edvin Revazov und Caspar Sasse, beide Debütanten an diesem Abend, berühren, begeistern und verzaubern auf ganzer Linie. Sie verleiten mich zu dem abgedroschenen Ausdruck, dass sie ihre Rollen zu leben scheinen und dass sie jene Personen sind, die nie verwehende Spuren auf unseren Seelen hinterlassen.
Sasse machte, damals noch Aspirant in John Neumeiers letztem Ballett als Intendant, in Epilog von sich reden. Jetzt, in seiner ersten abendfüllenden Hauptrolle in einem erzählenden Ballett, beweist er, dass wir noch viel von ihm erwarten dürfen. Er ist ein hinreißender Tadzio. Unbekümmert und mit federleicht wirkenden Sprüngen tollt er mit seinem Freund Jaschu (Emiliano Tores) Ball spielend auch mit anderen Freunden über den Strand. Ergreifend sind alle Szenen und Duette mit Revazov. Beginnend mit dem Moment, wenn er Aschenbach, den er zuerst umrannte, aufhilft und sich ein wunderschönes Miteinander entwickelt. Neugierig freundlich von Tadzios Seite aus, ungläubig von der Aschenbachs. Endend mit der letzten Szene, in der er zu Isoldes Liebestod aus Richard Wagners Tristan und Isolde als Todesengel agiert.

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In der Uraufführung 2003, war er selbst noch Tadzio, das Sehnsuchtsziel Aschenbachs (Lloyd Riggins). Zusammen mit seiner Rolle Gustav von Aschenbach wächst Edvin Revazov jetzt geradezu über sich hinaus. Zu Beginn, nicht von den Bewegungen aber der Ausstrahlung her steif und distanziert, wird Aschenbach durch Revazov langsam zu einem Menschen, der sich nach und nach seinen Träumen und Sehnsüchten hin- und ergibt, wunderbar, authentisch und schließlich losgelöst von Realität und jahrelang gelebten Werten. Noch nie ist mir aufgefallen, wie sehr Revazov inzwischen auch ein Meister der klitzekleinen Gesten ist. Wie er zögert Tadzios Hand zu ergreifen, sie, als dieser sie geschüttelt hat, gefühlte Minuten lang anstarrt, rührt (mich) zu Tränen, die auch fließen, wenn er sich in die Hände der Friseure begibt. Mit jedem Tanzschritt, jedem Blick, jeder zögerlichen, nicht immer zu Ende geführten Bewegung und ja – mit jedem Sprung, macht Revazov Aschenbachs Emotionen, seine Unsicherheit, seinen Selbstekel und seine unstillbare, reine Sehnsucht nach diesem Jungen, der alles zu sein scheint, was Aschenbach nie wirklich war, (mit)fühlbar. Wie schön ist es doch mit erleben zu dürfen, wie ein Künstler sich immer weiterentwickelt. Und damit meine ich nicht „besser“, werden, sondern die eigenen Vorzüge, Fähigkeiten, vertiefen zu können und wollen.
Fazit und Nachtrag: Wie nachhallend und beeindruckend dieser Abend war, habe ich mehr als ausreichend betont. Bleibt noch zu erwähnen, dass Peter Schmidt und natürlich auch John Neumeier zum Schlussapplaus auf die Bühne kamen, der neue Ballettchef Demis Volpi beiden Blumensträuße überreichte und dann ankündigte, dass der Abend noch einen weiteren Höhepunkt haben würde. Der bestand darin, dass Dr. Dorion Weickmann Neumeier den neu erschaffenen Lifetime Achievement Award der Zeitschrift Tanz überreichte. Wie Neumeier selbst, vertrat auch Weickmann die Meinung, dass ohne sein Ensemble, der Erfolg seiner über 170 Ballette und auch dieser Preis nicht zustande gekommen wäre. 1800 Zuschauer*innen stimmten zu und ich denke, ihre Standing Ovations galten zwar zum größten Teil Neumeier. Aber eben nicht nur.
Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 9.2. 2025
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