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Hamburg Ballett – Die kleine Meerjungfrau: Wie Phönix aus der Asche

Titelbild: Xue Lin als Meerjungfrau/ Kreation des Dichters
PhotoCredits: https://www.kiranwest.com/

In nur knapp drei Wochen studierte das Hamburg Ballett John Neumeiers „Die kleine Meerjungfrau“ ein, das die 50. Hamburger Balletttage eröffnete. Ist dieses Werk auch eine überarbeitete Neuauflage und keine Uraufführung, wäre dies auch eine große Leistung, wenn das Ergebnis nicht so großartig wie bei der Premiere erlebbar wäre. Zumal neben der Neueinstudierung noch einige andere Ballette geprobt und aufgeführt sein wollten und die unglückliche Situation mit dem inzwischen bereits ehemaligen Ballettintendanten Demis Volpi zwar abgeschlossen, aber sicher noch nicht ganz vergessen ist.

Kurz: Das Ensemble des Hamburg Balletts bewies ein Mal mehr seine Besonderheit, seinen Enthusiasmus für den anstrengend wunderbaren Beruf Balletttänzer*in und all die unterschiedlichen Anforderungen an Technik und vor allem auch Emotionalität. Dass das Premierenpublikum zwar intensiv und lautstark, aber nicht so lang anhaltend wie gewohnt jubelte, hat, da bin ich überzeugt, Gründe, die mit mangelnder Begeisterung so gar nichts zu tun haben. Premierenpublikum ist halt an sich zurückhaltender als intensive, alte oder neu hinzugekommene Fans!

Merkmal des Hamburg Balletts: „Ganzheitliches Tanzen“

Mag der Phönix-Vergleich auch etwas pathetisch anmuten, so stehe ich dennoch dazu. Denn was dieses Team unter der Anleitung des stellvertretenden Ballettintendanten LLoyd Riggins in kürzester Zeit erarbeitete, verlangt neben hoher Professionalität viel Kraft, mentale Stärke und die Bereitschaft etwas von sich selbst in die jeweilige Rolle zu legen, um sie wirklich zum Leben zu erwecken. Dies gelingt, wie gewohnt, allen Beteiligten, von den Darstellern des Meeres, den Schwestern der Meerjungfrau, den quirligen Freundinnen Henriettes, Matrosen, die beiden im Outfit samt Sonnenbrillen wie Sister Act entsprungenen Nonnen (Victoria Badahl, Ida Stempelmann) aus Henriettes (Kloster)Schule, bis hin zu den Hauptpartien, Meerhexer, Henriette, Edvard, Dichter und Meerjungfrau.

Es ist müßig und vielleicht sogar langweilig, erneut zu betonen, dass in Hamburg stets „Menschen, die tanzen und nicht nur tanzende Menschen“ (Zitat: Neumeier) auf der Bühne lachen, leiden, lieben, leben. Aber so ist es nun ein Mal und ich finde es besonders momentan wichtig, dies nicht Vergessenheit geraten zu lassen. Auch im Ensemble erkennt man verschiedene Charaktere und Persönlichkeiten, nichts und niemand ist stereotype „Staffage“ für die Protagonist’innen. Diese dann glänzen endgültig durch das, was ich „ganzheitliches Tanzen“ nenne, glaubt man ihnen doch ihre Rollen in jeder Hinsicht.

Xue Lin (Meerjungfrau), Ensemble
PhotoCredits: Kiran West

So ist Ida Praetorius eine einfach entzückende Henriette. Aus der (Kloster)Schülerin im grauen Kleid, die sich neugierig und zärtlich um den gestrandeten Edvard kümmert, zu einer verliebt und selbstsicher flirtenden Schönheit in strahlendem Pink und schließlich zur glücklichen Braut, die die Liebe ihres Mannes zu den Klängen/Stimmen des Meeres nicht teilen kann. Aber wie auch? Ist es doch die Stimme der Meerjungfrau, die ihn einst rettete, die er hört, hält er sich selbst oder der Dichter ihm jene Muschel ans Ohr, die laut Volksglauben des Meeres Rauschen enthält. Auch tänzerisch überzeugt Praetorius wie stets, sie verzaubert mit ihrer Anmut in den Pas de deux, wie auch Soli, Schritte und Sprünge setzt sie mit exakter Leichtigkeit und das Wie, dass hinter der mädchenhaften Ausstrahlung, die Fähigkeit zur Darstellung ganz gegensätzlichen Persönlichkeiten steckt, wie zum Beispiel Romola Nijinsky (Nijinsky) Blanche Dubois (Endstation Sehnsucht) oder auch Julie (Liliom), macht ihre Henriette um so bewunderungswürdiger. Beweisen diese Partien doch ihre Wandelbarkeit.

Ida Praetorius (Henriette), Matias Oberlin (Edvard)
PhotoCredits: Kiran West

Auch Louis Musins Vielseitigkeit überrascht schon lang nicht mehr. Wir kennen ihn als tief liebenden Romeo, als nervenkranken Stanislaw Nijinsky (Nijinsky) und als jungenhaften Fritz (Der Nussknacker). Aber so herrlich widerlich böse habe, zumindest ich, ihn noch nie gesehen. Aufgrund oder auch trotz seiner extremen Maske begeistert Musin mit außerordentlicher Ausdruckskraft in Mimik, Gestik, Körpersprache und Tanz. Seine Boshaftigkeit und Grausamkeit der kleinen Meerjungfrau gegenüber erschrickt geradezu auf faszinierende Art und Weise. Seine Sprünge werden immer noch immer kraftvoller und ich bleibe dabei, in ihm steckt ein Charaktertänzer wie Alexandre Riabko, der aber ganz und gar ein Louis Musin ist und bleiben wird

In seiner für mich besten Rolle, Stanley Kowalsky (Endstation Sehnsucht) lehrt auch Matias Oberlin uns das Fürchten. Und nicht nur als Karenin (Anna Karenina) besticht er durch natürliche Eleganz. Hier als Prinz Edvard zeigt er sich von einer neuen, wunderbaren Seite. Sein Edvard ist vielleicht ein wenig oberflächlich, aber auf jeden Fall liebenswürdig, herzlich und charmant. Ja, er nimmt sich der Meerjungfrau, die er, da fischschwanzlos, hilflos am Strand findet. Er macht es ihr nicht leicht, ihn nicht zu lieben, ihn töten zu wollen. Und doch gibt es Momente, da möchte man ihn rütteln , macht er doch selbst aus dem fehlgeschlagenen Mordversuch ein Spiel. Oberlin geht auf in dieser Partie trotz aller Verspieltheit. Selbst im marschähnlichen Hochzeitstanz mit seinen Matrosen, dominiert seine unaufdringliche Noblesse in Ausstrahlung und Bewegung.

Francesco Cortese, Evan L’Hirondelle, Javier Monrea, Moises Romero, Joao Santana
PhotoCredits: Kiran West

Lennard Giesenberg hatte bisher von allen hierauf geführten bisher die wenigsten Gelegenheiten verschiedene Facetten seiner Tänzerpersönlichkeit zu zeigen. Doch ist er ein sympathisch empathischer Bruder Lorenzo (Romeo und Julia). Ich freue mich auf seinen Tadzio (Tod in Venedig) am 15.7. und sein Dichter in „Die kleine Meerjungfrau“ lässt mich immer wieder gerührt und mitfühlend schmunzeln. Es ist einfach nur berührend schön, wie es ihm gelingt, deutlich zu machen, dass er und die Meerjungfrau eigentlich eins sind. Sein Beschützerinstinkt ihr gegenüber, wie er sie und sich am Ende in die sternenklare Unendlichkeit, die Erlösung, den Tod führt, geht ganz und gar unter die Haut. Seine fließenden Bewegungen, die oft die ihren spiegeln, sind nicht anders als schön zu nennen.

Ihre wunderschönen, federleichten, in Rollen wie zum Beispiel der Fliederfee (Dornröschen) geradezu ätherischen Bewegungen, waren das Erste, das mir je an Xue Lin auffiel und lange auch das einzige, das mir bedingungslos an ihr gefiel, bis ich sie dann als Lydia Iwanowna  (Anna Karenina) erleben und ihre eher harte, ja berechnende Seite kennenlernen durfte. Nun als Meerjungfrau, die sie bereits vor einiger Zeit tanzte, hat sie mich „am Haken“. Man kann es nicht anders sagen: Xue Lin IST die Meerjungfrau, lebt diese Rolle auf allen Ebenen. Wie gesagt, ihr tänzerischen Können faszinierte mich schon immer, und wie sie sich in ihrer Schwanzflosse bewegt, ist mehr als bewunderungswürdig. Fast so bewunderungswürdig, wie ihre Haltung und Bewegungen, wenn sie Beine hat. Sie stolpert nicht nur, sie scheint aus Unwohlsein regelrecht hin sich zusammenzuschrumpfen. Mit jedem Blick, jeder Geste, und sparsamer Mimik macht sie uns ihr Leid deutlich und ihre unendliche Liebe und Sehnsucht zu Edvard. Damit rührt sie zu Tränen, denn alles scheint tief aus dem Inneren zu kommen und das in jeder Minute, jeder Situation. Eine wunderbare Leistung, die jede Hochachtung verdient!

Matias Oberlin (Edvard), Xue Lin (Meerjungfrau )
PhotoCredits: Kiran West

Des Dichters Kreation: seine sehnsüchtige Seele

Jeder von uns kennt mindestens eine modernisierte Version von H.C. Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“. Sei es Disneys kindlich verspielte Zeichentrickvariante von 1989 oder der neue Realfilm, der über Emanzipation und Umweltschutz belehrt, die beide ein Happyend haben. Doch Andersens Geschichten haben, wie man so schön sagt, „Viel mehr Fleisch auf den Rippen“ als man vermutet. John Neumeier erzählt in diesem Ballett, dessen Originalfassung am Königlichem Opernhaus Kopenhagen 2005 uraufgeführt wurde, auch die Geschichte hinter der Geschichte, nämlich Andersens unerfüllte Liebe zu seinem Freund Edvard Collin, die augenscheinlich die Inspiration zur Meerjungfrau war.

Lennard Giesenberg (Dichter), Matias Oberlin (Edvard), Xue Lin (Meerjungfrau )
PhotoCredits: Kiran West

Zu Anfang sehen wir einen jungen Mann , den Dichter, in einer Art Bilderrahmen, bekleidet unter anderem mit jenem hohen Zylinder, der Andersen so wichtig gewesen sein soll und lesen die Anfangszeilen seines Märchens auf einer Leinwand. Er führt uns durch die Geschichte, zeigt uns (s)eine Seele, die sich allein durch eine fiktive Person entfalten kann. Eigentlich ist er, ebenso wie die kleine Meerjungfrau, unfähig in einer normalen Welt zu leben, mit ihr zu kommunizieren. Ihre wahre Welt ist die unendliche Weite des Meeres, seine die seiner unendlichen Fantasie, die er auf seinen vielen Reisen, auch zu See, nährt. Sie kann in der fremden Welt nicht gehen, versucht es dennoch, um ihre Liebe, den Prinzen Edvard, für sich zu gewinnen, für ihn erträgt sie die gewalttätige Verwandlung in einen Menschen durch den Meerhexer.

Louis Musin (Meerhexer), Xue Lin (Meerjungfrau)
PhotoCredits; Kiran West

Auch dem Dichter fällt es schwer sich auf dem Parkett der Gesellschaft zu bewegen, darum steckt sein Kopf immer in einem Notizbuch. Dass auch er Prinz Edvard liebt, wird im Prolog des Ballettes deutlich, wenn der Dichter sich an die Hochzeit zwischen Edvard und Henriette (vermutlich eine Anspielung auf Henriette Wulff, Tochter eines Kommandeurs und späte Freundin Andersens) erinnert. Er ist wie paralysiert, wenn Edvard ihm die Hand reicht, streichelt diesem in einer Erinnerung sanft die Wange. Er überträgt diese Liebe in seine Meerjungfrau, seine Schöpfung und damit den Spiegel seiner Seele, dadurch erhält auch seine Märchenfigur eine Seele und beide finden letztlich Erlösung.

Lennard Giesenberg (Dichter), Xue Lin (Meerjungfrau )
PhotoCredits: Kiran West

Berührende Szenen, märchenhafte Bilder, verzaubernde Musik

Wie bei vielen seiner Ballette zeichnet John Neumeier für alle künstlerischen Ebenen verantwortlich: Choreografie, Inszenierung, Licht, Bühnenbild und Kostüme. Nur die Musik stammt als Auftragswerk aus der Feder von Lera Auerbach.
Neumeier gelingt es, uns, durch verspielte, dramatische und romantische Szenen, die in einem Bühnenbild, das geschickt die Erden- und die Meereswelt verbindet, in die Welt des Märchens zu entführen. Ohne Kitsch, sondern mit subtilen Mitteln, wie wellenartig, gebogenen, blauen LED-Leuchten oder einem Modellbauschiff, das im oberen hinteren Bühnenbereich auch Wellen, Sturm und Untergang entgegen schaukelt. Schön auch die Kostüme des Meeres: wallende dunkelblaue Röcke mit weißem Saum, auch für die Herren. Auch die symbolische Mehrfachverwendung der Kammer der Meerjungfrau imponiert. Ihrs ist Gefängnis, Henriette aber rahmt sie bei der Hochzeit ein und die gesamte Hochzeitsgesellschaft drängt sich darin in fraglicher Gemeinschaftlichkeit, während die Meerjungfrau außen vor bleibt. Nur ein Beispiel für viele Kleinigkeiten, die ich für entdeckens- und erwähnenswert halte.

Xue Lin (Meerjungfrau), Ensemble
PhotoCredits: Kiran West

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Simon Hewett, besonders Konradin Seitzer an der Solo-Violine und Lydia Kavina am Theremin, vervollständigte die verzaubernde, melancholische Stimmung durch Lera Auerbachs Komposition. Es gelingt Auerbach dem mystisch, geheimnisvollen Leben unter dem Meeresspiegel klangvoll-bildhaftes Leben einzuhauchen. Vor allem dank des Theremins, dem einzigen Instrument, das ohne Berührung gespielt wird und Töne nur durch bestimmte Abstände der Hände zu den beiden Antennen dieses elektronischen Geräts, erzeugt. Töne, die etwas Geisterhaftes haben, so wie andere Melodien, kraftvoll und rhythmusstark, die laute, ja fast profan wirkende irdische Welt porträtiert. Immer aber vervollkommenen sich Emotionen, Handlung und Tanz mit der empathisch passend komponierten Musik zu eiem wunderbaren Ganzen.

Fazit: Alles in allem ein wunderbarer Abend und auch wenn es „eigentlich nur“ eine Wiederaufnahme ist, eine würdige Eröffnung für die 50. Hamburger Balletttage.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 6.7.2o25




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