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Hamburg Ballett – Anna Karenina: Von Glück und Unglück

Titelbild: Anna Laudere (Anna),
PhotoCredits: Kiran West (Premiere2017)

Gefühlt mit Siebenmeilenstiefeln nähert sich John Neumeiers definitiv letzte Saison als Intendant des Hamburg Ballett dem Ende zu. Die Wiederaufnahme des von Tolstoi inspirierten Stückes Anna Karenina am 26.4.24 stimmte auf begeisternde Art melancholisch. Dies ist zum einen der berührend aufwühlenden Leistung von Anna Laudere, die schon 2017 in der Titelrolle brillierte, und ihren Kollegen zu verdanken, zum anderen schwingt viel Traurigkeit mit, da am 8.5.24, nach nur 4 Vorstellungen die letzte Vorstellung stattfinden wird, und zwar auf unabsehbare Zeit. Vielleicht gibt das dem Jubel und Standing Ovations noch eine besondere Bedeutung hinzu.

Premierentrailer 2017

Die Schiksale dreier Familien

Neumeiers Interpretation ist nicht unbedingt eine 1 zu 1 Umsetzung des gleichnamigen Romans von Leo Tolstoi, aber doch ein zeitloser Gesellschafts- und Lebensspiegel. Im Mittelpunkt steht die Politikergattin Anna Karenina, die während eines dramatischen Zugunglücks mit Todesfall auf Alexej Wronski trifft, mit dem sie eine leidenschaftliche Affäre beginnt, die jedoch mehr noch als den gesellschaftlichen Hindernissen an den Nachwirkungen des Dramas auf dem Bahnhof scheitert. Denn Wronskl, wie Anna, verfolgt der Tote in ihren Träumen, und Anna leidet, vielleicht auch wegen ihres Tablettenmissbrauchs, letztendlich an Wahnvorstellungen, denen sie sich letztendlich durch Suizid entzieht.

Anna Laudere Anna), Alexandr Trusch (Wronski),
PhotoCredits: Kiran West

Doch wir erleben auch die Geschichte von Annas Schwägerin Dolly, der es nie wirklich gelingt, ihren stets untreuen Ehemann zu verlassen, und die dennoch (oder deshalb?) bis zum Ende zu Anna hält. Dann erleben wir auch die Beziehung des Farmers Lewin mit, der unsterblich in Dollys Schwester Kitty verliebt ist, die ihn jedoch erst erhört, nachdem sie, mit Lewins Hilfe, eine psychische Lebenskrise überwunden hat, in die sie Wronsky stürzte als er sie für Anna verließ.

Im letzten Bild lässt Neumeier uns mit der Gewissheit zurück, dass für alle Zurückgelassenen das Leben weitergeht, fragen sich besonders Wronski, aber auch Lewin offensichtlich: „Warum und wie?“

Aleix Matinez (Lewin), Emilie Mazon (Kitty)
PhotoKredits: Kiran West (Premiere 2017)

„Stimmungsmalende“ Musik, zum Leben erweckte Charaktere

Die Titelfigur ist in A-K-R-I-S- / Albert Kriemler gekleidet, ansonsten liegt die Verantwortung für Kostüme, Bühne, Licht und natürlich Choreografie bei John Neumeier. Seine Musikauswahl, die von Peter I. Tschaikowsky über Alfred Schnittke bis zu Cat Stevens (später bekannt als Yusuf Islam) reicht, spiegelt die Stimmungen, Situationen und tieferen Gefühle der Protagonisten wider. Leitmotiv mäßig, verwendet Neumeier zum Beispiel das Antante cantabile aus Tschaikowskys Streichquartett Nr.1 für den von ihren Kindern verhinderten Versuch, ihren Mann Stiwa zu verlassen, wie auch Annas Rückkehr aus der Zweitätigkeit mit Wronsky in Italien nach Moskau.

Anna Laudere (Anna), Haley Page (Dolly). Ensemble PhotoCredits: Kiran West

Um das Leben des eher bodenständigen Lewins auf dem Lande von der großstädtischen Eleganz zu unterscheiden, werden seine Szenen ausschließlich mit Cat Stevens/Yusuf Islam Melodien untermalt. Es gibt noch zahlreiche Beispiele dieser Art, für mich wie eine Erzählart mit Bedeutungen auch zwischen den Zeilen. Dies gilt vor allem für eine Szene in der Oper bei der Tatjanas Briefszene aus Tschaikowskys Eugen Onegin und Alfred Schnittkes (k)ein Sommernachtstraum zeitgleich gespielt werden.

Wie stets erwiesen sich Nathan Brock und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, bei den vielen nicht vom Band eingespielten Stücken, als einfühlsam und die Tänzer unterstützend.

Matias Oberlin (Karenin)
PhotoCredits: Kiran West

Dass in diesem Aufführungszyklus trotz weniger Aufführungen dennoch zwei unterschiedliche Besetzungen präsentiert werden und es insgesamt acht Rollendebüts geben wird, ist ein dritter Punkt, der melancholisch stimmt. Denn jede Debütantin, jeder Debütant hat ja momentan nur zwei Auftritte (26, 27.4., bzw. 8., 10. 5.) um sich zu beweisen. Andererseits ist diese „Besetzungspolitik“ etwas, das Ballett so interessant und spannend macht, denn jede neu besetzte Rolle, bietet die Chance neue Aspekte oder Aspekte einer Persönlichkeit kennenzulernen.

Sie allerdings bewegten bereits bei der Premiere bei den 43. Balletttagen 2017: Aleix Martinez als Farmer Lewin und Emilie Mazon als Kitty. Martinez ist der Tänzer mit der ungewöhnlichsten Ausstrahlung hier am Hamburg Ballett, er ist ein Ausdruckstänzer par excellence und sprunggewaltig dazu. Die Art wie er Verzweiflung darstellt hat etwas von selbstvergessener Ekstase, kommt tief aus dem Inneren, wie auch alle anderen Emotionen und erreicht das Publikum auch genau dort: tief unter der Haut und der Freude „nur“ an schönen oder schwierigen Bewegungen.

Anna Laudere (Anna), Felix Koch (Serjoscha), Matias Oberlin(Karenin)
PhotoCredits: Kiran West

Auch Emilie Mazon ist eine Tänzerin, die durch die Vielfältigkeit ihrer Ausstrahlung und die wieder gefundene Leichtigkeit in ihrem Tanz begeistert. Lange schien die Solistin leider von der Bildfläche der tragenden Rollen verschwunden, wie schön, dass sie wieder da ist.

Auch Karen Azatyan beeindruckte bereits vor sieben Jahren als der zum Alptraum gewordene, bei dem Zugunglück ums Leben gekommene Muschik. Seine Szenen mit den beiden traumatisierten Liebenden erzeugt jenes Gefühl, das einer unangenehmen Gänsehaut gleicht, aber dennoch nicht unwillkommen ist, weil es zeigt: Azatayan versteht sein „Handwerk“.

Zwar nicht bereits in der Premiere, aber doch schon erprobt als charmant-charismatischer Ehebrecher Stiwa, bzw. Lydia Iwanowna, Karenins Assistentin, sind Florian Pohl und Xue Lin. Xue Lin ist so graziös, wie Pohl dynamisch kraftvoll und beide überzeugen auch darstellerisch.

Xue Lin (Lydia). Matias Oberlin (Karenin)
PhotoCreditsKiran West

Bei der Partie des Serjoscha, dem Sohn von Anna und Karenin gab es eine Art Doppeldebüt, denn Felix Koch ist noch Schüler der Ballettschule. Er brachte neben jugendlicher Frische, und wunderbarer Verspieltheit in einer Szene mit seiner Mutter zu Musik aus Tschaikowskys Der Nussknacker auch schon viel Können als Tänzer und Partner seiner Tänzerin mit.

Zum ersten Mal verkörperte Hayley Page die Rolle der Leid geplagten Dolly. Um es salopp zu sagen: Ihre Intensität erwischte mich kalt. Etwas fachlicher gesagt, Page gelang es, mit jeder Geste, jeder Bewegung uns Dollys Qualen, ihre Verzweiflung und Wut nahe zubringen. Die Pas de deux mit Pohl zogen durch scheinbare Leichtigkeit und ästhetisches Kräftemessen in den Bann.

Haley Page (Dolly). Florian Pohl (Stiwa)
PhotoCredits: Kiran West

Eine wunderbare Dreierpaarung

Anna Karenina, eine Frau zwischen zwei Männern, von denen Karenin für berechnendes politisches Kalkül steht und Wronski für die Emotionalität eines (Lacross)Sportlers. Dem einen dient sie als schmückendes Beiwerk, für den anderen ist sie Leidenschaft, die ihren Ursprung bei einem Unglück fand.

Karenin wie auch Wronski würden von ihren Tanz-Darstellern zum ersten Mal interpretiert. Noch nie ist mir die Eleganz der Bewegungen von Matias Oberlin so ins Auge gestochen, wie gestern in den ersten Szenen des Abends, obwohl ich ihn ja immer wieder gerne, zum Beispiel als Mr. Brocklehurst in Cathy Marstons Jane Eyre, als „herrlich aalglatt“ bezeichne. Aber es ist mehr, er gibt seinem Karenin , die charismatische Ausstrahlung, die man von einem erfolgreichen Politiker erwartet. Seine Pas de deux mit Anna, sprechen in der Art der Hebungen und gemeinsamen Schritte von besitzergreifender Macht, souverän und sicher ausgeführt. Seine tänzerische Stärke bleibt ihm auch im Pas de deux mit Lydia, die den nun Verlassenen tröstet. Hier jedoch lässt Oberlin als Karenin, zum ersten Mal wirklich die Maske des Unbesiegbaren fallen.

Anna Laudere (Anna), Alexandr Trusch (Wronski),
PhotoCredits: Kiran West

Alexandr Trusch ist meines Erachtens der Tänzer mit dem umfangreichsten Rollenrepertoire hier beim Hamburg Ballett. Nun ist, nach dem innerlich zerrissenen, distanzierten Mr. Rochester in Jane Eyre und dem von den Göttern hoch beanspruchten Odysseus, eine weitere Partie hinzugekommen. Trusch überzeugt auf ganzer Linie als der jugendliche, zu Beginn lebensfrohe, ja, unbeschwerte Sportler Wronski, der seine Liebe zu Anna zu seinem Lebensmittelpunkt macht, daran reift und an ihrem Tod zerbricht. Tänzerisch beeindruckt Trusch wie stets durch diese ihm eigene Mischung an kraftvollen Sprüngen, fast virtuos wirkenden Hebungen wie auch zu zarten, weichen Gesten.

Anna Laudere (Anna)
PhohtoCredits: Kiran West (Premiere 2017)

Mit Fug und Recht sind alle vier (Koch, Page, Oberlin, Trusch) als äußerst gelungen zu bezeichnen. Und den großen Jubel haben sie, und auch der Rest des Ensembles mehr als verdient. Doch die Standing Ovations sollten in erster Linie ihr gelten: Anna Laudere.

Ihr auf dem Titelbild zu sehender Ausdruck verliert auch aus der Ferne einer mittleren Parkettreihe und ohne Hilfsmittel nicht an Intensität. Vom erste Augenblick an begleitet man Lauderes Anna auf allen Höhen und Tiefen, fühlt mit ihr mit. Das gilt für alle Szenen, sei es allein, mit Trusch, Oberlin oder Azatayan. Stets scheint sie mitzuempfinden mit der traurigen Romanheldin, die sie darstellt. Mit schwerelos wirkenden Bewegungen, die stets aus dem Gefühl heraus entstehen: natürlich, authentisch, schön und Händen, die Geschichten erzählen, sorgt sie dafür, dass man sich ihrer Ausstrahlung und Bühnenpräsenz nicht entziehen kann. Wie schön, dass sie zu jenen gehört, die auch in der kommenden Spielzeit auf der Bühne des Hamburg Balletts stehen werden.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 26.4. 2024

https://www.hamburgballett.de

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