operngestalten.de

Nomen ist nicht immer Omen - Oft reicht er nicht allein-Dahinter kann noch viel mehr "wohnen"! -Kommt! Schaut doch einfach rein!

Hamburg Ballett – Odyssee: Bleibt die Sehnsucht?

Titelbild: https://www.kiranwest.com/

Am 10.3.2024 fand in der Staatsoper Hamburg die letzte Vorstellung der ersten Aufführungsserie von John Neumeiers Ballett Odyssee mit dem Hamburg Ballett statt. Dieses Mal hielt ich mich an meinen eigenen Rat aus dem Premierenbericht: „Lassen Sie sich von dem „Ariadnefaden“ des Stücks einfach leiten, genießen Sie, ohne allzu sehr zu versuchen den Weg zu verstehen, ihn im Ganzen nachvollziehen zu können! Ein weiteres Homer/Odesseus Zitat: ‚… ihr begreift, was ich meine, etwas läuft ab, das wir niemals ermitteln werden.’“

Christopher Evans. Anna Laudere
PhotoCredits: Kiran West

Vom Verzeihen, Neubeginn und Sehnsucht?

Noch immer verstehe ich nicht wirklich, warum andere amüsiert, was ich als subtil sarkastisch oder auf jeden Fall unangenehm berührend empfinde. Wie die Fahrradfahrten von Odysseus Sohn Telemachos auf einem Kleinkinderfahrrad, die -zugegebenermaßen an Comicschleichen erinnernde- Art, wie Telemachos sich auf der Suche nach Odysseus bewegt oder die von Kirkes Anhängerinnen in grunzende Schweine verwandelten Soldaten. Aber mir wurde vieles „einfach so“ klar, denn ich ließ mich berühren, statt jeden Hinweis interpretieren „wollen zu müssen“. So erlebte ich die Geschichte um die Irrfahrten des wohl bekanntesten Helden der Weltgeschichte/-literatur in vielen Teilen unbeschwerter, so dies denn bei einem so hochaktuellen Thema von Krieg und Macht und ungewollten Ereignissen möglich ist.

Xue Lin (Athene). João Vitor Santana (Telemachos)
PhotoCredits: Kiran West

Einiges wurde mir klar(er). Telemachos ist am Ende der Hoffnungsträger unter anderem, weil er seinem Vater verzeihen kann. Dieser bedroht in blinder Wut nach seiner Heimkehr nicht nur die ungebetenen Freier seiner Gattin sondern auch den eigenen Sohn, der ihn auf den ersten Blick an alte Feinde denken lässt. Mit folkloristischen Klängen leitet dieser eine Art Versöhnungs-/Neubeginnfest ein, doch je mehr andere, anfangs ausschließlich, Herren sich dazugesellen, desto energetischer, ja kämpferischer, wirkt die Musik zwischendurch. Im eigentlichen Finale stehen alle auf einem ins Parkett reichenden Steg, an der Spitze Telemachos, mittendrin Penelope und Odysseus. Erst mit den letzten Tönen wenden sie sich alle vom Publikum ab. Schauen dorthin wo Francesca Harvey das Meer symbolisiert. Dann erhebt sich im aller letzten Moment Odysseus (Christopher Evans), blickt erst ebenfalls nach hinten und dann ins Publikum,

Francesco Cortese, Alessandro Lucia Frola (Krieger)
PhotoCredits: Kiran West

Dies war der Moment, der mir die Tränen in die Augen schießen ließ, denn ich fragte mich plötzlich: Konnte Odysseus sich je selbst verzeihen? Dabei rede ich nicht von seiner Untreue Penelope gegenüber, sondern von dem Blutrausch, der Gier zu verletzen, die in den Kriegsszenen immer wieder bis an die Grenzen des Erträglichen deutlich wurde. Und war da Sehnsucht in Evans/Odysseus’ Blick zu Meer und Zuschauer*innen, oder vielleicht auch die Gegenfrage: Könnt ihr euch eure eigene Wut oder vielleicht sogar Brutalität anderen gegenüber je wirklich verzeihen? Oder das, was im Stück die Götter und im wahren Leben die Politiker „im Namen ihrer Völker“ anordnen und veranlassen. Kurz: Dieses Ballett hallt auch nach dem zweiten Sehen noch lange nach.

Niemals zweitklassig, immer auf neue Art begeisternd

Diese Aufführungsserie wurde von einer anderen Besetzung beendet, als jene der Premiere, auch im Graben: So übernahm Nicholas Mogg, die im Klang ungewöhnlichen und schwierigen Baritonpartie. Auf der Bühne selbst hatten, was die auf der Website genannten Partien betrifft, allein Ida Stempelmann (Eurykleia), Florian Pohl (unter anderem Er und Kyklop), wie auch Francesco Cortese und Alessandro Lucia Frola (beide Freier/Krieg) bereits schon in der Premiere getanzt.

Lormaigne Bockmühl (Nausikaa)
PhotoCredits: Kiran West

Ida Stempelmann beeindruckte an beiden Abenden ein Mal mehr durch die selbstverständliche Natürlichkeit, mit der sie nicht nur darstellerisch sondern besonders auch tänzerisch ihre Rollen gestaltet.
Auch Florian Pohl entwickelt mehr und mehr künstlerischen Vielseitigkeit. Hier punktet er vor allem als flauschig fedriger Kyklop, dessen Auftritt erneut für viel Amüsement im Publikum sorgt. Mich berührt diese Szene zwischen dem Kyklop und Odysseus und dessen Mannen, auch beim zweiten Betrachten, eher unangenehm. Für mich symbolisiert genau dieser Kyklop das Verhalten der Gesellschaft jenen gegenüber, die anders sind und dabei „nett“ und „harmlos wirken“. Sie kann man erst ernst nehmen, wenn sie sich wehren, ein anderes Verhalten zeigen. Dann, ja, dann kann man sie ernst nehmen um sie zu bekämpfen und vernichten. Francesco Cortese und Alessandro Lucia Frola faszinieren am 10.3., wie damals, durch ihre energetischen, oft akrobatischen und oft in absoluter Synchronität ausgeführten, gemeinsamen Szenen.

Die drei Damen, die auf Odysseus’ Irrfahrten wichtige Rollen spielten, werden von Olivia Betteridge/Hayley Page (Kalypso), Eleanor Broughton/Lormaigne Bockmühl (Nausikaa), Madoka Sugai/Ana Torrequebrada (Kirke) überzeugend, Charakter entsprechend und mit viel eigener Persönlichkeit dargestellt. Besonders bei Broughton, Brockmühl und Torrequebrada erwacht da der Wunsch, sie noch sehr oft in den unterschiedlichsten Rollen zu sehen, denn die anderen sind ja -wie schön- schon länger etabliert und beliebt. Mögen alle auch noch in der Ära Volpi im Hamburg Ballett bleiben!

Ida Stempelmann (hinten, Eurykleia), Anna Laudere (Penelope)
PhotoCredits: Kiran West

Sie zieht, wie im Premierenbericht bereits geschrieben, die Fäden der Handlung, erscheint immer wieder in unterschiedlichen Formen: Pallas Athene, am Abend der Dernière die fast ätherische Xue Lin. Sie wirkt distanziert, erhaben und damit weniger wohlwollend als Praetorius in der Premiere. Aber eben diese Unterschiede machen halt sogar so kleine Gesten wie die Jackenübergabe an Telemachos (siehe Bild oben) zu etwas Besonderem.

Wo Charlotte Larzelere (Premiere) jugendliche Unschuld und dann verzeihende Hingabe ausstrahlt, ist Anna Laudere von Anfang an reifer, wirkt bei den Angriffen der fremden Freier abgeklärt und verzweifelt zugleich. Sie ist und bleibt eine Meisterin der kleinen ausdrucksvollen Gesten und wunderschönen Hände. João Vitor Santana der am 10.3. den Telemachos tanzte, zählt wie auch Premierenbesetzung Louis Musin gerade 21 Jahre und verkörpert die Partie, mit dem gleichen Enthusiasmus und Können, mit dem er schon als Mitglied des Bundesjugendballetts auf sich aufmerksam machte. Auch für ihn gilt mein Wunsch, dass er auch in der nächsten Spielzeit hier sein wird.

Vorne: Anna Laudere (Penelope)
PhotoCredits: Kiran West

Die beiden Darsteller der Titelrolle Alexandr Trusch und Christopher Evans stehen, wie so viele andere, im Hamburg Ballett für dessen Besonderheit, dass es immer um „Menschen, die tanzen, nicht tanzende Menschen“ (John Neumeier) geht. Trusch ist der kraftvolle „typische“ Heros: eher kämpferisch als tragisch leidend, selbst in Verzweiflung noch zum (Über)Leben entschlossen, was sich vor allem in seiner Sprungkraft zeigt. Andererseits jedoch überzeugt er auch durch weiche, fast zarte Gesten. Stets lässt er uns dabei an Odysseus’ Gemütszuständen teilhaben.

Dies gilt noch mehr für Christopher Evans, der ein tragischerer Held ist, verwirrter, verzweifelter und noch sanfter. Etwas weniger muskulös als Trusch, ist er dennoch kraftvoll, doch sein Tanzstil ist „leiser“, lebt durch kleine Gesten, Eigenheiten, die ich nicht benennen, beschreiben kann, die ihn aber auch in anderen Partien auszeichnen.

Fazit: Ein Abend, der mit Standing Ovations endete und ein Ballett, das zumindest mich einfach nicht loslässt. Ob seiner Vielschichtigkeit, der für mich nicht unbedingt „schönen“ doch zweifelsohne ausdrucksstarken, unter die Haut gehenden Musik und natürlich nicht zuletzt der Leistungen ALLER Tänzer, in beiden Besetzungen. Ich freue mich schon jetzt darauf, auch 24/25 wenigstens einmal über dieses Werk und seine Künstler*innen zu berichten.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 10.3.2024 (und 24.2.)

https://www.hamburgballett.de/https://

www.hamburgballett.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=196293

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

Antworten

© 2024 operngestalten.de

Thema von Anders Norén