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Hamburg Ballett: Odyssee – Verwirrende Irrfahrt

Nachdem sich Ballettdirektor John Neumeier gesetzt hat und noch bevor Dirigent Markus Lehtinen den Orchestergraben betritt, ertönt ein vielstimmiges „Happy birthday to you“ aus dem Zuschauerraum. Erst dann beginnt die, auf den 85. Geburtstag des Choreografen festgelegte Wiederaufnahme seines Balletts Odyssee nach dem Epos von Homer. Erst dann wird die vielschichtige Geschichte zu der Musik George Couroupos  wie stets mit viel technischem, wie auch empathisch-ausdrucksstarken Können vom zu Recht umjubelten Hamburg Ballett umgesetzt. Das Stück selbst entpuppt sich als ein wunderbares, aber vielleicht ein klein wenig zu gut gemeintes Geschenk an seine Compagnie, sein Publikum und vielleicht auch -berechtigterweise- an sich selbst.

Unten: Alexandr Trusch, Louis Musin
FotoCredits: Kiran West

Gelegentlich weiche ich zu meinen Gunsten vom Wege ab

Was Odysseus über sich selbst sagt, trifft weit weniger dramatisch und im übertragenen Sinne. Während des Schreibens komme auch ich oft vom Wege ab, um weiterzugeben, was ich in Oper oder Ballett entdeckt habe, an versteckter, möglicher (Be)Deutung.

Allein schon die Bühnenbilder von Yannis Kokkos bergen viele Symbole, vielleicht auch Metaphern, in sich. Da ist die in Farben der Pride-Bewegung beleuchtete Bühnenrückwand, die obere Galerie, auf der sich bei offener Bühne nach und nach die Götter zum Anstoßen mit Champagner treffen, während in einem kleinen Fernsehapparat Kinder aus Kriegsgebieten zu sehen sind. Ferner ist da dann der enorme Kreis aus Metall, der schon in Nijinsky die Welt zu symbolisieren scheint, nicht zu vergessen die LED-Wellen, die das Element sichtbar mache, dass für Odysseus‘ Irrfahrten steht: das Meer.

Louis Musin, Ida Stempelmann
FotoCredits: Kiran West

Dann sind da auch die ständigen Kostümwechsel besonders von Odysseus, die Vermischung von modernen und antiken Kleidungstücke für die Yannis Kokkos ebenfalls verantwortlich zeichnet. Hier beginnt dann allmählich das Abkommen vom Wege, mit dem ich Sie als meine Leser unterhalten möchte, sich eher zu meinen Ungunsten zu entwickeln. Zähle ich die Szenen dazu, wie Telemachos (Louis Musin), von seinem Vater Odysseus (Alexandr Trusch) begleitet, auf einem Kinderfahrrad über die Bühne fährt, die Krieger sich erst stöhnend, dann hysterisch lachend in einem einzigen Krankenbett wälzen, die von Kirke (Madoka Sugai) in Schweine verwandelten Männer zu grunzen beginnen, dann muss ich es zugeben: zusammen mit der Brutalität, mit der der Hühnerfedern flauschige Kyklop (Florian Pohl) geschlachtet wird, nur weil er anders ist, und ähnliche Szenen überrollen mich an diesem Abend, sodass ich denke:

„Nebenbei hab ich den Ariadnefaden verloren…“

Darum habe ich mich entschlossen, mich in diesem ersten Bericht in all den schönen Bildern zu verlieren, die Neumeier und seine Compagnie uns bieten. Und erst nach meinem zweiten Besuch am 10.3.2024 oder vorher in einem Extrabericht, nach genauem Studium des Programmheftes, werde ich mich (für Sie) mit Beschreibung und Interpretation auseinandersetzen. Oh, dieses Ballett hat durchaus eine große Wirkung, wenn man seinen Homer und vielleicht auch seinen Neumeier nur oberflächlich kennt, und es gelingt, sich einfach nur der, an sich schon ausdrucksvollen, Choreografie hinzugeben. Ganz ohne den inneren Druck verstehen und hinterfragen zu müssen/dürfen.

Die als Auftragswerk der Staatsoper Hamburg komponierte Musik von George Couroupos ist anspruchsvoll, die meist von Bariton Georgios Iatrou auf griechisch gesungenen Texte haben durchaus etwas, ja fast hypnotisches. An diesem Abend jedoch verwirrte mich alles zusammen eher, als dass es mich begeisterte. Und doch:

Alexandr Trusch
FotoCredits: Kiran West

… es füllt mit Wonne das Herz, dem Gesange zu horchen.“

Ja, aber auch dem Tanz zuzuschauen, sich ganz den weichen, Wellen gleichen Bewegungen zum Beispiel, der Damen, die in fließender blauer Seide, das Meer symbolisieren. Allen voran die wunderbar grazile Yun-Su Park, die mit fast schwerelos wirkenden Bewegungen fasziniert.

Auch Ida Stempelmann (Eurykleia) zog einmal mehr mit der selbstverständlichen Natürlichkeit ihrer Bewegungen und Ausstrahlung in den Bann. Die Aufzählung könnte nun endlos weitergehen. Ist doch Charlotte Larzelere eine absolut ausdrucksvolle Penelope, Madoka Sugai eine sehr keck verführerische Kirke, Olivia Betteridge als Kalypsso geheimnisvoll anmutig. Ida Praetorius zieht als Pallas Athene in immer neuen Erscheinungsformen die Fäden von Odesseus‘ (und unserem?) Schicksal. Sie gibt jedem einzelnen Figurenaspekt etwas ganz Besonderes, eigenes. Aber das ist ja das Spezielle an dieser Compagnie: jede Besetzung betont durch tänzerische oder darstellerische Fähigkeiten stets erneut einen anderen Charakteraspekt der einzelnen Rollen. Ein weiterer Grund, mich auf den 10.3. zu freuen um dann die unterschiedlichen Besetzungen nebeneinander zu besprechen.

Florian Pohl(?), Alexandr Trusch, Louis Musin
FotoCredits: Kiran West

Die (ge)wichtigeren Partien gebühren in John Neumeiers Odyssee den männlichen Tänzern, wie dem wundervoll kraftvollem Duo Francesco Cortese (Freier Krieg), Alessandro Lucia Frola (Freier Krieg) oder der viele Rolle ausfüllende Florian Pohl.
Mehr als bewunderungswürdig füllen jedoch Louis Musin und Alexandr Trusch die Partien von Telemachos und Odysseus aus. Beide Rollen sind tiefgründig und verlangen, neben hoher technischer Flexibilität, ein Höchstmaß an Empathie und Wandlungsfähigkeit. Von Trusch sind diese Fähigkeiten schon aus vielen anderen Balletten bekannt. Der blutjunge Musin (21) ist noch am Anfang seiner hoffentlich großen Karriere. Für heute möchte ich nur sagen, dass ich denke, Musin könnte/ wird irgendwann das Charisma eines Aleix Martinez oder Alexander Riabko erlangen. Trusch ist schon ganz, ganz nah dran.

Louis Musin,
FotoCredits: Kiran West

Fazit: Odyssee ist ein typisches Neumeier Ballett und erreicht auch hier das, was er laut eines Interviews erreichen möchte. Nämlich, dass die Zuschauer*innen etwas über sich selbst, und damit auch unsere Welt, erfahren. Machen Sie es anders als ich: Lassen Sie sich von dem „Ariadnefaden“ des Stücks einfach leiten, genießen Sie ohne allzu sehr zu versuchen den Weg zu verstehen, ihn im Ganzen nachvollziehen zu können! Ein weiteres Homer/Odesseus Zitat: „… ihr begreift, was ich meine, etwas läuft ab, das wir niemals ermitteln werden.“

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 24.02.2024

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