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Hamburg Ballett – 3. Sinfonie von Gustav Mahler: „… Aus tiefem Traum …“

Titelbild:PhotoCredits: https://www.kiranwest.com/

„… bin ich erwacht(…)“ heißt es im vierten Satz der 3. Sinfonie von Gustav Mahler, der mit „Nacht „überschrieben ist. Nach der letzten Aufführung von John Neumeiers Ballett zu Mahlers ergreifender, vielschichtiger Musik hatte sicher nicht allein ich das Gefühl, dass Nietzsches Worte aus „Also sprach Zarathustra“, wenn er sie auch anders meinte, zu den gesehenen zwei Stunden pass(t)en. Wie schon bei Illusionen – wie Schwanensee, gab es eine ganz besondere Energie/Stimmung über Bühne, Orchestergraben und Zuschauersaal, wirkten alle (Haupt)Akteure noch intensiver in Darstellung und Ausstrahlung. Am Ende gab es, wie stets, langanhaltenden Jubel für alle, wie auch Standing Ovations für Neumeier.

„Ich möchte Menschen, die tanzen auf der Bühne sehen, keine tanzenden Menschen.“ An diesem Statement hält Neumeier stets fest. Auch in seinen sinfonischen Balletten, wie Mahlers 3. Sinfonie, mit der er 1975 eine neue Art des Balletts kreierte, lässt Neumeier seine Tänzer (eine) Geschichte(n) erzählen. So abstrakt die Erzählart auch sein mag, gibt es doch einen roten Faden, dem jeder auf seine ganz persönliche Weise folgen kann. Und sei es auch nur durch die Überschriften der sechs Sätze, die auch der Komponist ursprünglich, wie (auch) in der Programmmusik üblich, mit Titeln versah.

1. Satz: Pan erwacht/Gestern

„Pan erwacht, der Sommer marschiert ein“, lautet der Titel, den Mahler diesem mit „kräftig, entschieden“ überschriebenen Satz gab, der schon sehr machtvoll, mit viel Blechbläsern und einem auch in anderen Sätzen wiederkehrenden Marschthema beginnt. Es gibt kurze lyrisch anmutende, aber auch nicht wenige dissonante Klangbilder. Zusammen mit Neumeiers Choreografie führt er uns (mich) eher in ein „Gestern“, voller Leid und nur Kampf, als in den positiven Zauber des Sommers. Auch wenn der metaphorisch ja auch etwas von sich ins Leben kämpfen, sich im Leben behaupten hat und der Satz musikalisch an Triumph/ Sieg denken lässt. Auf der Bühne bleibt die namenlose Hauptfigur allein zurück, mit dem Rücken zum Publikum, einen stilisierten Sonnenauf- oder Untergang vor sich.

1. Satz. Herrenensemble
PhotoCredits: Kiran West

Außer durch ein eindrucksvolles Lichtkonzept besticht dieser Satz auch dadurch, dass er ausschließlich von männlichen Tänzern getanzt wird, deren nackte Oberkörper keine erotische, sondern eher archaische, urtümlich kraftvolle Ausstrahlung haben. Das gilt für das Ensemble wie auch die Protagonisten dieses Satzes: Edvin Revazov als jener junge Mann, dem wir auf seinem Weg durch alle Sätze folgen, und Jacopo Bellussi, Aleix Martinez, Alessandro Lucia Frola, Florian Pohl und Christopher Evans. Ein Sextett, das durch kraftvolle Eleganz, Authentizität und bemerkenswert ästhetische Bewegungen beeindruckt. Der Löwenanteil der Begeisterung gebührt in diesem Teil Aleix Martinez. Sei es in der Gruppe oder in seinem Solo, immer wieder fasziniert Martinez durch die eindrucksvolle Losgelöstheit seiner Bewegung, weil er, eigentlich in allen (sinfonischen), Rollen die reine Verkörperung von Ausdruck und Emotionen ist.

2. Satz: Was mir die Blumen erzählen“/ Sommer

Auch mit der Bezeichnung des zweiten Satzes, der mit „Tempo di Menuetto. Sehr mäßig.“ überschrieben ist, wählte Mahler einen deutlichen Bezug zur Natur. Neumeiers einfach Titel „Sommer“ ist da etwas subtiler, aber vielleicht auch metaphorischer. Hier sind die Damen des Ensembles gefragt, verbreiten leichtfüßige Heiterkeit mit nur wenig Melancholie. Edvin Revazov ist hauptsächlich stiller Beobachter, zieht aber dennoch hier und da die Aufmerksamkeit auf sich. Aber es sind die beiden Paare Ida Praetorius/Christopher Evans und Ana Torrequebrada/Alessandro Lucia Frola, denen es durch Anmut gelingt, der Sorglosigkeit jugendlicher Verliebtheit Gesichter und Körper zu verleihen und so Erinnerungen an den eigenen Lebenssommer zu erwecken.

2. Satz, Ana Torrequebrada/Alessandro Lucia Frola, Damenensemble
PhotoCredits: Kiran West

3. Satz: Was mir die Tiere erzählen“/Herbst

Doch auf jeden Sommer folgt der Herbst, die Zeit des Abschieds, das letzte Festhalten an unbeschwerter Lebensfreude von Tieren und natürlich uns Menschen. Überschrieben mit „Comodo. Scherzando“ ist dieser Satz musikalisch eine Mischung aus Überschwänglichkeit, im Wechsel und erneut durch einige Dissonanzen in Wehmut übergeht, unterstützt auch von an militärische Signal-Fanfaren mahnende Sequenzen, Klänge.

Die Bühne gehört zwar wieder Edvin Revzov dieses Mal auch aktiv/passiv, als Partner Ida Stempelmann und Xue Lin, doch beschäftigen sich Choreografie und Dramaturgie mehr mit anderen Paarungen. Zum einen sind da die graziöse Yun-Su Park und Matias Oberlin, dann das wunderbar jugendliche und sehr harmonische Trio Ida Stempelmann, Priscilla Tselikova  und Louis Musin. Wie schön, dass Stempelmann, Oberlin und Musin nicht nur bald in den diesjährigen Balletttagen ihre Vielseitigkeit zeigen dürfen. Aber wie schade, dass Tselikova und Park  die Compagnie zum Ende der Spielzeit verlassen. Waren die Partien, die ihnen anvertraut wurden, zwar eher jene der Kategorie „unterstützend“, so wussten sie doch immer auf ganzer Linie zu überzeugen. Wie sie auch hier wieder bewiesen, ebenso wie ein weiteres Paar in dieser Gruppe, nämlich Olivia Betterdridge und Lizhong Wang. Aber im Grunde dreht sich dieser Satz um die Geschichte eines vierten Paares, dargestellt von Florian Pohl und Xue Lin. Denn sie eben sind es, die uns mit viel Grazie, Kraft, Harmonie und Empathie von Liebe und Abschied erzählen.

4. Satz, Jacopo Bellussi, Anna Laudere, Edvin Revazov
PhotoCredis: Kiraan West.

4. Satz: Was mir der Mensch erzählt“/Nacht

Dies ist sicher der bewegendste Satz des Werkes, einer von zweien, die Gesang enthalten. Hier ist es das von Mahler vertonte Gedicht „Oh Mensch!“ aus Friedrich Nietschzes Also sprach Zahatustra“, das Mezzosopranistin Katja Pieweck mit viel schönem, nicht übertriebenem Pathos interpretierte, begleitet vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Simon Hewett.

Lange bevor die Musik („Sehr langsam. Misterioso“) mit einem dunklen Harfenakkord und ebenso dunklen Klängen von Cello und Kontrabass beginnt, ist es Anna Laudere, die uns in ihrer ganz besonderen, stets tief berührenden Körpersprache an all den Emotionen teilhaben lässt, die uns Menschen besonders in der Nacht wach liegen lassen. Laudere gehört zu jenen Künstler*innen, die mit kleinsten Gesten viel vermitteln können. Ebenfalls noch im, ich nenne es tänzerischem „A capella-„Modus gesellen sich dann Jacopo Bellussi und Edvin Revazov zu ihr. Es entsteht erst eine Spannung zwischen den beiden Männern und dann zwischen je einem Mann und Laudere aber auch allen dreien. Dazu passt der Text, der von „Lust – tiefer noch als Herzeleid“ spricht und auch: „Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“. Laudere, Bellussi und Revazov gelingt es mühelos, uns mitfühlen zu lassen an dieser komplexen „Lust“, die soviel mehr ist als sexuelles Verlangen. Vielmehr geht es um das tiefe Bedürfnis nach menschlicher Berührung und Zuneigung, was hier auf kunstvoll schöne, doch ganz und gar nicht künstliche, Art und Weise von diesen drei wunderbaren „Tanzdarstellern“ vermittelt wird.

4. Satz,, Anna Laudere, Edvin Revazov
PhotoCredis: Kiran West.


5. Satz: Was mir die Engel erzählen“/Engel

Nach der Dunkelheit auch hin Melodie und Klang folgt klangliche Helligkeit in Form von den Kinderstimmen des Hamburger Knabenchors und Glockengeläut. Dennoch ist der Begriff „Engel“ von Mahler, wie auch von Neumeier, eher metaphorisch gemeint und bezieht sich (für mich) wie auch die Bezeichnung „Lustig im Tempo und keck im Ausdruck“ auf die kindliche Seele, das Kind, das wir alle in uns tragen sollten oder die Kindheit, die wir vielleicht zurücksehnen. Madoka Sugai macht es dem Publikum leicht, sich aus der ergreifenden Situation des 4. Satzes zu lösen, um sich an ihrer natürlichen Fröhlichkeit zu erfreuen, mit der sie zum Beispiel „Hüpfekästchen“ spielt, auch wenn hier melancholische Momente in dem kurzen Pas de deux mit Revazov und den Tönen in Orchester und Gesang nicht fehlen. Sugais Ausstrahlung aber überstrahlt jeden negativen Klang und Gedanken, bis sie, sich drehend, die Bühne verlassen hat.

6. Satz: „Was mir die Liebe erzählt“

Das „Adagio“ des letzten Satzes, bei dem sich nach und nach das gesamte Ensemble des Abends auf der Bühne befindet, hat etwas Beruhigendes, das sich auch im Tanz widerspiegelt. Paare finden sich (wieder), alles versprüht (die) Harmonie (von Liebe) ohne Kitsch. Aber auch hier gilt, dass ein Teil der Sehnsucht unerfüllt bleibt, wie sehr wir – oder in diesem Falle Edvin Revazov – die Hände ausstrecken nach dem Objekt unserer Wünsche und Träume, hier verkörpert von „Engel“ Madoka Sugai, die gemessenen Schrittes zu den letzten Paukenschlägen, die Bühne am vorderen Rand überquert. Was eine Gänsehaut, der Ergriffenheit hervorruft, bis sich Begeisterung endlich, Bahn bricht.

6. Satz, Finalbild (Gala zu John Neumeiers 50. Jubiläum, 2023)
PhotoCredits: Kiran West

Fazit: Ein Abend, der zu jenen gehört, die es mir schwer machen, mich mit meiner Berichterstattung daran zu halten, es zeitnah zu tun, da mir während des Schreibens immer wieder Neues einfällt, das ich für mitteilungswürdig halte. Denn Musik, Choreografie und künstlerischen Leistungen hallen lange nach. Ein kurzer Blick in das sehr informative Programmheft, nur wenige Töne aus welchem Satz auch immer, genügen mir und schon tauchen neue Ideen, neue Bilder im Innern auf, die erst (aus)sortiert und dann niedergeschrieben werden woll(t)en, um jenen, die nicht dabei waren, einen Eindruck zu vermitteln.

Birgit Kleinfeld, Vorstellungsbesuch 15. 6. 2024

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2 Kommentare

  1. Caroline Clermont 19. Juni 2024

    Ein sehr schöner Beitrag! Und besonders freuen wir uns über die Erwähnung der Kinderstimmen, denn das liest man selten. Allerdings haben in dieser Produktion nicht die „Hamburger Alsterspatzen“ das „Bim Bam“ gesungen, sondern die jungen Sänger vom Hamburger Knabenchor. Vielleicht lässt sich das noch richtig stellen. Herzlichen Dank
    Caroline Clermont,
    Chormanagerin
    Hamburger Knabenchor, e. V.

    • Admin 24. Juni 2024 — Autor der Seiten

      Oh, liebe Frau Clermont ich entschuldige mich, nicht genauer ins Programm geschaut zu haben und einfach etwas als selbst verständlich anzunehmen! Natürlich ändere ich.
      Herzlich Birgit Kleinfeld

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